Dienstag, 24. März 2015

Theokratische "One-Night-Stands". Oder: Jehovas Zeugen und der Zungenkuss.

Unter einem One-Night-Stand versteht man ja bekanntlich eine einmalige, voreheliche, sexuelle Nacht. Auch wenn dem gemeinen* Zeugen Jehovas unbekannt sein dürfte, dass viele Menschen in der Welt mit einem One-Night-Stand auch das bloße Übernachten ohne eigentlichem Sex meinen (nur Kuscheln ;) ).

Wie komme ich jetzt auf das Thema?

In Zeiten, in denen das Internet bei Jehovas Zeugen noch verteufelt und verpönt war, gab es Internetforen unter Zeugen Jehovas. Das waren teilweise tolle "Plätze". Auf manchen trafen sich "jung und alt". Auf anderen trafen sich ausschließlich junge Leute aus einer bestimmten Region. Zu dieser Zeit gab es auch die berüchtigten Zeugen Jehovas-Partys in Deutschland, bei denen man einen Berichtszettel als Eintrittskarte vorzeigen musste, damit vermieden werden konnte, dass nicht-ZJ auf die Party kamen. Ich hörte von mindestens drei Partys, nach denen mehrere Zeugen Jehovas ausgeschlossen wurden. Man sagte wegen "Unmoral". Ein Aufschrei ging durch die Versammlungen, Vortragsredner erwähnten immer wieder, wie schlimm es doch sei, dass sich manche Zeugen Jehovas durch derartiges Partyverhalten gar nicht mehr von der Welt unterschieden. Auch von mehreren Kreisaufsehern wurde immer wieder auf diese Partys verwiesen.

Aber ich schweife schon wieder etwas ab. Es war also die Zeit der verbotenen Internetforen. (Und hey - auch gegen Internetaktivititäten wurde zu dieser Zeit von der Bühne aus gewettert, huiuiui.) Auf einigen Plattformen verbanden sich also relativ junge Zeugen Jehovas (Alter 18-30). Eine davon hieß zum Beispiel "truthbrothers". Es gibt sie schon lange nicht mehr, googlen lohnt nicht. Der letzte Ableger war www.geht-mal-gar.net (die Adresse hat wirklich mal funktioniert!). Auch dort tummelten sich nur Zeugen Jehovas. Jedenfalls war es wirklich "cool" auf diesen Plattformen. Das meine ich nicht mal ironisch. Es war toll für einen Zeugen Jehovas zu sehen, dass es auch lockere Menschen in der Organisation gab, die auch mal mehr tranken und auch mal feierten. Es wurde viel darüber diskutiert, ob Tattoos akzeptabel seien. In welchen Fällen Dating eines Andersgläubigen akzeptabel sein könnte.

Und wirklich - wir hatten eine Menge Spaß. Wir trafen uns auf Kongressen, gingen Pizza essen und Bier trinken. Die Foren dienten als Dreh- und Angelpunkt für Treffen und Diskussionen. Eine Geschichte ist erzählenswert. Finde ich. Und lustig. Vor manchen Bezirkskongressen wurde sich auf dem Campingplatz getroffen, auf dem dann alle während der Kongresszeit zelteten. Einige löteten sich Abends so weg, dass sie während des Vormittagsprogramms mit den Kopfhörern ihres Diskmans in den Ohren einschliefen. Andere bekamen Hausverbot auf dem Camping-Platz, weil sie sich im Suff so daneben benahmen. Undenkbar für einen Zeugen Jehovas? Vielleicht. Aber alles, was ich hier schreibe, ist wahr und es müsste genug Menschen da draußen geben, die es bestätigen können. Übrigens hatten wir modifizierte Kongressplaketten, damit wir uns erkennen konnten. Ich werde mal die Augen offen halten, ob ich noch alte Sachen rumliegen habe :)

Und eines Tages fiel in einer dieser Online-Diskussionen, in der es darum ging, wie weit man beim ersten Kennenlernen gehen könne, der Begriff "theokratischer One-Night-Stand". Diese Begriffskombination ist faszinierend. Theokratisch und gleichzeitig One-Night-Stand? Häää? Derjenige, der den Begriff ins Spiel brachte, meinte damit, dass man einen Abend lang "rummachte" im Sinne von Rumknutschen und sich dann nie wieder meldete. Dies geschah i.d.R. auf Zeugen Jehovas-Hauspartys. Verschiedene Freundeskreise trafen aufeinander und wie das eben zwischen Mann und Frau ist, landeten einige irgendwo im Abstellraum und küssten sich. Aber sonst nichts weiter. Mit dem Begriff war tatsächlich nur Küssen gemeint. Daher ja auch "theokratisch". Diese Generation kannte die alte Zeugen Jehovas-Ansicht nicht mehr, nach der Zungenküsse nur unter Verheirateten annehmbar seien. Tatsächlich erinnere ich mich an ein Forenmitglied eines etwas konservativeren Zeugen Jehovas-Forums, das berichtete, dass sie ihren ersten Zungenkuss NACH der Eheschließung hatte. Und sie war damals noch nicht so alt, dass sie ernsthaft dieser älteren anti-Zungenkuss-Generation hätte zugeordnet werden können.

Der Schreiber über den "theokratischen One-Night-Stand" machte sich Luft, wie daneben er dieses Verhalten fand. Und seiner Erfahrung nach gäbe es manche Brüder, die es immer nach dieser Masche machen würde. Aus neutraler Sicht ist es ja dennoch irgendwie "ghandinisch": Ein ganzen Abend lang nur Küssen ohne Sex? Und das klappt immer und immer wieder, über Monate und Jahre hinweg? Meister der Selbstbeherrschung werden hier verteufelt? Gut, das war natürlich leicht sarkastisch, aber mit einem wahren Kern. Für einen Zeugen Jehovas dreht sich die Welt eben anders. Inklusive kompletter sexueller Verstörung, da man jegliche sexuelle Regung in der vorehelichen Zeit immer als unpassend, unangebracht und sündig betrachtet. Klar, dass das gestörte Verhältnis zur eigenen Sexualität auch nach der Eheschließung anhält.

Das war also die Geschichte vom theokratischen One-Night-Stand. Und der Internet-Foren-Zeit. In einer Zeit, in der überall und jederzeit den Zeugen Jehovas vermittelt wurde, dass solche Internetaktivitäten ihrem Geistiggesinntsein abträglich sei. Manche ehemalige Zeugen Jehovas werfen ihrer alten Religion vor, dass sie ihr Leben verpasst hätten. Sie hätten gerne Sex, Drugs and Rock'n'Roll gehabt. Aber zumindest ich als noch nicht einmal Ehemaliger erinnere mich an viel viel Spaß mit tollen Menschen. Ich war damals etwas verbissen, da ich ein theokratischer "Hardliner" auf voller Spur war. Aber ich war nie einfältig und hatte auch gerne Spaß und mochte es, neue Leute kennenzulernen. Ein Teil in mir verurteilte die theokratischen-One-Night-Stand-Habenden, ein anderer Teil wusste damals schon, dass es besser so ist, als wenn sich im Königreichssaal wie in manchen Moscheen oder der RCG ("Gemeinde Gottes") Mann und Frau voneinander getrennt sitzen müssen. Solchen Nicht-Extremismus unter den Zeugen Jehovas mochte ich, wenngleich es auch viele nicht so locker sahen.

Ich komme zum Schluss nicht drumherum noch eine weitere Geschichte zu erzählen. Auf einem Kreiskongress wurde ein Jugendlicher interviewed. Er war einige Male auf Partys in der Nachbarschaft und gab es nun auf, weiterhin auf diese Partys zu gehen. Er erzählte warum. Schlechter Umgang, zu viel Alkohol, den Anwesenden bedeutete Jehova angeblich nichts und evtl. sogar Drogen. Mental klopften ihm die ca. 1000 Anwesenden dafür auf die Schulter, dass er beschloss, nicht mehr zu seinem Nachbarn auf Partys zu gehen. Um ehrlich zu sein macht mich das im Nachhinein etwas traurig. Wenn der Junge völlig hinter seiner Religion steht, gäbe es doch kein besseres Aushängeschild, als bei ein, zwei Bier einen guten Eindruck zu hinterlassen, ein bisschen über seine Religion zu reden und dann zu gehen. Auf der anderen Seite weiß ich, wie wertvoll Menschen sind, die man einfach mag. Kumpel. Nachbarn. Seelenverwandte. Ohne ihnen gehen wir ein. Und der Junge kappte seinen Draht und beschränkte sich auf die Versammlung. So wird der Grundstein für Suizide nach dem Ausschluss gelegt. Auf der anderen Seite muss es für Außenstehende extrem spannend sein, zu hören, dass man tatsächlich ein Programm vor 1000 Menschen abhält, in dem ein netter Bub erzählt, dass er jetzt nicht mehr auf die Partys seines Nachbarn geht und ein geistiggesinnterer Mensch sein möchte.

Theokratische One-Night-Stands - ein Kapitel, an das sich in der Menschheitsgeschichte wohl nicht erinnert wird. Warum auch. Und ich fühle mich als relativ einsamer Erzähler. Die ehemaligen Zeugen Jehovas der letzten Jahre, die Bücher schrieben oder interviewed wurden, berichteten ausschließlich Geschichten von Extremismus, nicht von dem Spaß und der vielen Eigenheiten, die damit verbunden waren. Aus rein menschlich-westlicher Sicht ist es wohl lächerlich, ein so großes Thema aus Küssen unter Unverheirateten zu machen. Aber hey: In einigen nicht-christlichen Kulturen ist das mindestens ebenso verpönt wie bei den Zeugen Jehovas. Und ein geschlossenes System, wie es die Zeugen Jehovas sind, hat nunmal seine eigenen Naturgesetze, die für einen interessierten Geist durchaus faszinierend sind.

In Liebe

Kyp



*"gemein" im Sinne von "für die überwiegende Mehrheit geltend", bevor es manche Menschen ohne Deutsch-Abitur falsch verstehen.

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